Die Buchwanderer (German Edition) by Britta Röder

Die Buchwanderer (German Edition) by Britta Röder

Autor:Britta Röder [Röder, Britta]
Die sprache: deu
Format: epub
Herausgeber: Readbox
veröffentlicht: 2014-11-06T16:00:00+00:00


5

em verspäteten Frühling folgte fast über Nacht ein heftig und unerwartet früh einsetzender Sommer. Schwül und schwer legte sich eine lähmende Hitze auf Land und Leute. Auch auf dem Gut der Larins litt ein jeder darunter.

Doch für Rosalia war es mehr als die klebrige Hitze, die an ihren Nerven zerrte. Gereizt erkannte sie, wie viel ungenutzte Zeit seit ihrem Gespräch mit Ron bereits verstrichen war. Zwar hatten sie sich noch einige Male kurz sehen können, aber zu einem Vieraugengespräch war es dabei leider nicht mehr gekommen.

Rosalia hatte allmählich genug davon, dass sich ihre Rolle aufs Warten beschränken sollte. Die schwerfällige Trägheit des Hauses drohte jede Lebensenergie langsam zu ersticken. Ihre ohnehin nicht sehr entschlussfreudigen Mitbewohner vegetierten wie gelähmt vor sich hin. Die sich zäh ausbreitende Sommerfaulheit provozierte Rosalias trotzige Gegenwehr. Immer schwerer fiel es ihr, die Maske gelassener Gleichgültigkeit aufrechtzuerhalten, die sie vor der Aufmerksamkeit der Anderen schützte. Der Umgang mit ihren Mitbewohnern wurde zum riskanten Geduldspiel, bei dem sie jederzeit aus ihrer Rolle zu fallen drohte.

„Ich werde hier noch verrückt“, dachte Rosalia, täglich angespannter. Am liebsten hätte sie sich aus dem Stall ein Pferd genommen und wäre einfach zum Onegin’schen Anwesen hinübergeritten. Doch die vorgeschriebene Dramaturgie verbot ihr einen solchen Schritt. Rosalia wusste, dass nun Tatjanas große Szene bevorstand, die dem Roman seinen Höhepunkt gab. Sich vor Liebe nach Onegin verzehrend würde sie sich in einer dieser schwülen Vollmondnächte schlaflos in ihrem Bett hin- und herwälzen und zu dem Entschluss kommen, mit einem Brief an den Angebeteten ihrer unerfüllten Liebe Luft zu machen. Einen wundervollen Brief würde Puschkin diesem blutleeren Wesen in deren papierne Seele hauchen. Rosalia wusste, dass Tatjana ohne diese fremde dichterische Inspiration niemals auch nur ein poetisches Seufzen von sich gegeben hätte. Sie neidete Tatjana ihre Chance, den Verlauf der eigenen Geschichte in die Hand zu nehmen, von Herzen.

Ein wenig bang fragte sich Rosalia auch, wie Ron als Onegin auf das fremde Liebesgeständnis reagieren würde. Gab es Anlass zur Sorge, dass ihre bleiche Buchschwester ihn damit beeindrucken könnte? Wenigstens würde durch diesen Schritt Tatjanas die Handlung an frischer Dynamik gewinnen. Onegin wurde mit diesem Brief ein Anlass zugespielt, das Gut der Larins erneut aufzusuchen und Ron würde die Gelegenheit sicher nutzen, um sie, Rosalia, zu treffen.

Auch Ron machte die launische Hitze zu schaffen. Abkühlung suchend verbrachte er die meiste Zeit des Tages in der schattigen Abgeschiedenheit seines Gutes. Doch trotz aller Zurückgezogenheit bestürmten ihn Sinneseindrücke und Gedanken wie die allabendlichen Mückenschwärme. Er fand einfach keine Ruhe. Alles, was Rosalia ihm gesagt hatte, durchlief tausendfach seinen Kopf. Obwohl er anfangs gerne zurückweisen wollte, was er da hörte, konnte er nicht umhin, allmählich zu begreifen, dass Rosalia ihm nur seine eigene Realität beschrieben hatte.

Ob diese Realität nun in Wahrheit eine Fiktion war, war nicht wirklich von Bedeutung für ihn. Das wurde ihm mehr und mehr bewusst. Vielmehr war ihm wichtig, Rosalia wiederzuzusehen. Ihr fühlte er sich nahe und verbunden. Seine Gefühle für sie waren echt. Also musste sie ein Teil seiner Realität sein.

In wessen Fiktion sie sich beide bewegten, dieser Frage würde er sich noch stellen müssen.



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